Ein Gespräch mit einem achtjährigen Jungen während des Wechselns eines Wundverbandes hat mich vor kurzem sehr nachdenklich gestimmt. Er berichtete mir, dass er von seinen acht Euro Taschengeld zwei Euro an die Mama zurückgibt, weil sie derzeit in der Kurzarbeit ist und nicht so viel verdient. Die Mutter ergänzte, er mache das aus freien Stücken. Keiner habe das je von ihm verlangt.
Vieles hat sich in der Corona-Krise verändert. Das Denken, das Verhalten. Es betrifft Jeden, ganz gleich welchen Alters. Es ist noch nichts wissenschaftlich erwiesen, noch ist keine Studie erstellt. Für abschließende Betrachtungen ist es zu früh. Aber in der Kinderkrankenpflege kann man einige Veränderungen beobachten.
Babys lieben Gesichter
Babys schauen in Dein Gesicht. Sie versuchen mit ein paar Lebensmonaten, die Mimik des Gegenübers zu verstehen. Sie freuen sich, wenn die Person lacht, kleine Grimassen schneidet. Kommen die Kleinsten jetzt in die Notaufnahme, zum Kinderarzt oder in den Supermarkt, sehen sie Menschen mit Masken. Sie müssen jetzt umschulen und auf die Augen achten, mehr Wert auf die Stimme legen, um zu reagieren.
Was ist aber mit den Kontakten im Säuglingsalter? Keine Krabbelgruppen, wo um die Wette gekrabbelt wird, kleine Streitigkeiten um einen Ball oder einen Schnuller ausgetragen werden oder im Sandkasten gemeinsam Sand gegessen wird. All das fällt flach. Die Krippen und Babytreffs sind unregelmäßig geöffnet. Die Kinder sind mehr zu Hause und auf die Eltern und, wenn vorhanden, auf die Geschwister angewiesen.
Mehr zu Hause, weniger Auslauf
Zu Hause ist der Bewegungsradius meist sehr eingeschränkt. Die Kleinen werden häufig getragen. Und wer schon einmal angefangen hat, die ersten Schritte zu laufen, lässt nun nach. Denn in der Wohnung lässt es sich herrlich krabbeln, da muss man nicht laufen und kommt auf allen Vieren sogar schneller voran. Das erzählen einstimmig die Kinderärzte und die Eltern. Die Welt da draußen mit den Füßen entdecken – das ist gerade nur sehr begrenzt möglich.
Die körperliche Nähe fehlt
Spricht man mit den Kids im Kita- und Grundschulalter, erzählen sie, wie sehr sie ihre Freunde und ihre Großeltern vermissen. Spielen mit dem besten Kumpel, malen mit der besten Freundin und auf dem Schoß von Oma oder Opa sitzen und eine Geschichte vorgelesen bekommen – das fehlt den Kindern sehr. Ein kleiner Ersatz ist häufig der Bildschirm: So manches Kindergartenkind erläutert seinen Großeltern, wie Facetime und Skype funktionieren. Aber der Videoanruf kann keine körperliche Nähe schaffen, die in diesem Alter so wichtig ist. Und wer hebt der Oma die Brille auf, wenn sie bei der Begegnung am Bildschirm heruntergefallen ist? Kinder möchten gerne helfen, können es nicht und fangen häufig an, sich Sorgen zu machen. Im schlimmsten Fall entwickeln sie sogar Ängste. Oder sie sehen die beste Freundin im Videotelefonat weinen und können nicht trösten, sie nicht in den Arm nehmen.
Kommunikation und Beziehungen auf Distanz – dazu schreibt die Fachzeitschrift „Kinderkrankenschwester“: „Kinder benötigen gerade in diesem Alter plausible Erklärungen für die räumlichen Distanzregeln, um nicht – für die Erwachsenen oft nicht erkennbar – Angst- und Schuldgefühle zu entwickeln, über die die Kinder noch nicht gut sprechen können.“ Kinder fühlten sich bedrückt und hilflos, eben weil sie mitfühlen, heißt es in dem Artikel. „Sie können sich auch in die konkrete Perspektive eines Erwachsenen versetzen und die Gefühle eines Erwachsenen lesen und sich entsprechend verhalten (z.B. trösten statt mitweinen, ab ungefähr drei Jahren).“
Mehr Zeit mit der Familie
Bei Kindern ab etwa zehn Jahren hört man dann schon sehr unterschiedliche Meinungen. Einige Kinder finden die Einschränkungen toll. Endlich sind Mama und Papa mehr zu Hause. Die Familie unternimmt zusammen kleine Abenteuer, es wird gespielt und alle Mahlzeiten werden zusammen eingenommen. Mit den Geschwistern beim Homeschooling zusammen lernen kann auch Spaß machen! Der Große bringt dem Kleinen etwas bei.
Andere Kinder wiederum empfinden das ständig zu Hause sein als sehr belastend. Beide Eltern im Homeoffice, dann noch Schule von zu Hause. Wer darf wann an den PC? Rücksicht nehmen, jeden Tag aufs Neue. Manche Eltern müssen in Kurzarbeit und die finanzielle Belastung ist groß. Die Sorgen sind noch größer. Und schon bekommt das schützende Zuhause tiefe Risse. Plötzlich ist kein Zusammensein mehr da, die Kinder ziehen sich räumlich und emotional zurück. Hier berichten uns die Kinderärzte, dass das Einnässen bei vielen Kindern wieder angefangen hat, die eigentlich schon lange aus den Windeln raus sind. Auch kann der Zusammenhalt der Geschwisterkinder in belastenden Situationen unterschiedlich ausfallen. Von „wir halten zusammen“ bis zum größten Streit mit körperlicher Auseinandersetzung kann alles passieren.
Tipps für Familien
Familientherapeuten haben ein paar Vorschläge, wie sich Eltern und Kinder unter Stress behelfen können – nachzulesen in der Zeitschrift „Kinderkrankenschwester“. Bei der Bekämpfung negativer Gefühle hilft zum Beispiel, sich zu fragen, …
– was der Tag an schönen und nicht so schönen Erlebnissen gebracht hat
– wofür man dankbar ist
– wie ich eigene Erwartungen reduzieren kann
– wie ich mich mehr im Freien aufhalten kann
– wie ich etwas Schönes für mich und andere gestalten kann
– wie ich Stress vermeiden bzw. ihn umgehen kann
– wie ich das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit vermindern kann.
Allein über Stress und Ängste offen zu sprechen, kann schon helfen.
Veränderungen in der Kindernotaufnahme
Seit dem letzten Jahr haben wir weiniger Infektionskrankheiten wie Bronchitis, Durchfallerkrankungen und der übliche Kindergartenschupfen ist seltener. Warum?
An jedem Kinderwagen baumelt eine kleine Desinfektionsmittelflasche. Die Kindergartenkinder singen bei jedem Händewaschen zwei Mal das Lied „Happy Birthday“, denn so lange sollte man sich, laut hygienischen Richtlinien, die Hände waschen. Und selbst die Vorschulkinder ziehen sich freiwillig eine Maske auf, weil sie mithelfen wollen.
Die Ängste der Eltern, wenn das Kind dann doch plötzlich Fieber bekommt, sind groß – das spüren auch die Kinder. Wir versuchen dann mit viel Geduld und natürlich mit Testungen, die Angst zu nehmen.
Auch Haushaltsunfälle bei Kindern nehmen zu. Die Kleinen helfen beim Kochen und Backen mit und stellen fest, dass es vorteilhaft gewesen wäre, einen Topflappen zu benutzen. Experimente mit der Hochbettrutsche und dem heimlich aufgebauten Trampolin im Kinderzimmer enden auch mal mit Verletzungen. Diese Unfälle und ihre Folgen bekommen wir in der Notaufnahme aber schnell wieder in den Griff.
Zugleich haben wir jetzt häufiger Kinder mit Kopf- und Bauchschmerzen in der Notaufnahme. Jugendliche machen sich große Sorgen um ihre Schulabschlüsse. Wie werden die Abiturprüfungen laufen; schaffe ich die Tests für den Realschulabschluss? Wir beobachten bei diesen Kindern häufiger Hyperventilationen oder Synkopen (kurzzeitige Ohnmacht), die dann bei uns behandelt werden.
Was aber alle Kids am meisten vermissen, ist die Geburtstagsparty mit Familie und Freunden. Machen wir also alle mit und halten uns an die AHA-Regeln, um bald eine große Party feiern zu können.
Foto: Kelli McClintock / Unsplash