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Ein Menschenleben unter den Händen

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Ich erinnere mich noch sehr gut an meine erste Reanimation. Ich war Mitarbeiter der Intensivstation und begleitete als neuer und unerfahrener Kollege das Reanimationsteam. Über die Aufgaben dieser Teams hat Farshid einen tollen Artikel geschrieben.

Mein Herz rutschte mir in die Hose, als das rote Reanimationstelefon klingelte. Auf der Geriatrie gab es einen Notfall – oder, wie wir es nennen, eine „Reanimationssituation“. Meine Erfahrungen bestanden bis dahin ausschließlich aus den Übungen an Reanimationspuppen und dem theoretischen Unterricht.

Nun war der Tag also gekommen. Wir machten uns auf den Weg – ein Arzt, zwei erfahrene Pflegekräfte und ich. Schnellen Schrittes liefen wir durch die Gänge und Flure unseres Krankenhauses. Die Kollegen hielten Smalltalk. Ich war viel zu angespannt, um mich daran zu beteiligen. Plötzlich wandte sich meine Kollegin an mich: „Hast du schon einmal reanimiert?“ Ich antwortete kurz: „Nein.“ Sie: „Ok.“

Ältere Dame leblos im Bett

Wir verließen den Fahrstuhl auf der Station und blickten den Flur entlang. Vor einem Zimmer stand eine Pflegekraft und winkte uns heran. Als wir im Patientenzimmer eintrafen, fanden wir eine leblose ältere Dame im Bett vor. Zwei Pflegekräfte waren im Zimmer und hatten die sogenannten Basismaßnahmen eingeleitet. Die Mitpatienten waren von den Kollegen bereits vor die Tür begleitet worden.

Wir bauten unser mitgebrachtes Equipment auf, schlossen den Überwachungsmonitor an die Patientin an, und meine Kollegin übernahm die Herzdruckmassage, um die Stationspflegekraft zu entlasten. Zwar sieht die Ausbildungsverordnung vor, dass eine examinierte Pflegekraft in der Lage sein muss, Reanimationsmaßnahmen einzuleiten. Jeder Gesundheits- und Krankenpfleger ist also in Lebenserhaltungsmaßnahmen geschult. Dennoch kommen solche Notfälle auf vielen Stationen nicht so häufig vor – und sind für die Kollegen dort deshalb meist mit maximalem Stress verbunden. Anders als auf der Intensivstation haben sie nicht die regelmäßige „echte“ Praxis.

Dann sollte ich übernehmen. Meine Kollegin schaute mich an und sagte: „So Marc, ran…“ Ich trat an das Bett, orientierte mich am Brustkorb der Patientin, legte meine Hände übereinander und begann, wie vorher dutzende Male an Puppen geübt, mit der Herzdruckmassage.

Der Brustkorb senkt und hebt sich

Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl, wie der Brustkorb sich unter meinen Bewegungen senkte und wieder hob. Ein Gefühl, das ich niemals vergessen werde. Unter meinen Händen sah ich die leblose Patientin.

Der Arzt schaute mich an und sagte: „Einen kleinen Tick schneller…“ Meine Kollegin tastete den Puls in der Leiste der Patientin. „Du machst das gut – ich fühle einen starken Puls“, sagte sie. Nach kurzer Zeit das Kommando des Arztes: „Bitte kurze Pause – ok, kein Puls, weiter…“

Zeitgleich erhielt die Patientin einen Venenzugang und wurde mit einem Beatmungsschlauch versorgt. Es gibt für eine Reanimation Richtlinien. Alles läuft nach festen Mustern ab: Welche Medikamente werden wann gegeben, wann wird welche Maßnahme durchgeführt. Ich war damals viel zu aufgeregt, mir über diese Dinge Gedanken zu machen. Aber meine Kollegen sorgten dafür, dass alles seine Ordnung hatte. Sie machten klare und deutliche Ansagen.

Nachdem die Patientin erstversorgt war, machten wir Pflegekräfte weiter. Der Arzt sah sich nun die Patientenakte noch einmal detailliert an. Er hatte beim Reinkommen nur einen kurzen, orientierenden Blick hineingeworfen und war von den anwesenden Pflegekräften über die Patientin knapp informiert worden. Nun war es an der Zeit, sich weitere Informationen zu holen. Der Stationsarzt war inzwischen eingetroffen und gemeinsam stimmten sie sich ab.

„Nulllinie“ auf dem Überwachungsmonitor

Die Patientin hatte weiterhin keinen „spontanen Kreislauf“. Sobald wir die Herzdruckmassage stoppten, kam der Kreislauf der Patientin zum Erliegen. Auf dem Überwachungsmonitor war eine „Nulllinie“ zu sehen. Es gab trotz der verabreichten Medikamente und unserer weiteren Maßnahmen keine elektrische Aktivität am Herzen.

Nach dem Gespräch mit dem Stationsarzt stellte unser Doktor uns die Patientin kurz vor. Aufnahmediagnose, Nebenerkrankungen, bisheriger Behandlungsverlauf. Dann sagte er: „Wir reanimieren jetzt seit 30 Minuten und die Patientin reagiert nicht. Weiter wissen wir nicht, wie viele Minuten sie schon ohne Kreislauf im Bett lag. Im Anbetracht der Vorerkrankungen und Vorgeschichte sowie der sehr schlechten Prognose würde ich die Maßnahmen beenden. Hat jemand von euch Bedenken?“

Tod um 18.30 Uhr

Ich enthielt mich damals – mir fehlte noch „das Gefühl“ für die Situation. Meine beiden Kollegen schüttelten aber den Kopf. Ich hörte den Satz, „dann hören wir jetzt auf“ und sah, wie die Herzdruckmassage eingestellt wurde. Auf dem Monitor war weiter keine Aktivität zu sehen. Die Patientin war tot.

Im Fernsehen würde nun der Satz kommen: „Zeitpunkt des Todes….“ und tatsächlich
sah meine Kollegin auf die Uhr und ich hörte: „18.30 Uhr?“ Der Arzt nickte.

Wir packten unsere Materialien zusammen. Der Arzt blieb auf der Station, um sich um die Bürokratie zu kümmern. Mit meinen Kollegen ging ich zurück auf die Intensivstation. Wir reinigten die benutzten Materialien und bereiteten das Notfallequipment für den nächsten Einsatz vor.

Keine Chance in diesem Fall

Meine Kollegin gab mir ein kurzes Feedback: „Alles richtig gemacht. Wir konnten in diesem Fall nichts mehr erreichen. Die Prognose war schon zu Beginn sehr schlecht.“ Damals hörte ich die Worte, verstand aber nicht deren Inhalt.

Seit diesem Tag sind nun viele Jahre verstrichen und unzählige Male wiederholten sich solche Reanimationssituationen. Man bekommt Routine. Es ist irgendwann Alltag.

Häufig bekommen wir den Kreislauf der Patienten wieder. Einige Patienten erholen sich vollständig. Andere überleben, behalten aber schwere Hirnschädigungen zurück. Andere sind im Verlauf auf unserer Intensivstation verstorben.

Jahre später…

Ich erinnere mich an eine Situation viel später, nachdem ich schon begonnen hatte, als Mentor und Praxisanleiter zu arbeiten. Das Reanimationstelefon klingelte und gemeinsam mit einem anderen Kollegen und einem jungen, unerfahrenen Kollegen liefen wir los. Auf dem Weg zur Station hielten wir Smalltalk. Ich wandte mich irgendwann an unseren neuen Kollegen: „Hast du schon einmal reanimiert?“. Er antwortete: „Nein“. Ich sagte: „Ok.“

Foto: Fotolia / sudok1

Marc Alexander Noll

(Jahrgang 1981) ist Stationsleiter der Internistischen Intensivstation der Asklepios Klinik Barmbek. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Marc hat ein Faible für unnötiges technisches Spielzeug, wie er selbst sagt. Bei Computern und Handys ziehen ihn die neuesten Modelle magisch an. Sport steht täglich auf Marcs Programm. Er geht Joggen, am liebsten im Jenfelder Moor, oft aber auch einfach vor der Haustür. Neuerdings macht er Karate – als Ausgleich und zum Abreagieren. Auch seinen Sohn konnte er für die asiatische Kampfkunst begeistern. Wunderbar abschalten kann Marc auch mit der Gitarre in der Hand. Er spielt in einer Band, mit der er regelmäßig auftritt.


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    Wir sind Pflege! Denn mit mehr als zwei Millionen Patient:innen sind die Asklepios Kliniken eines der größten Gesundheits-unternehmen in Deutschland. Mehr als 67.000 Mitarbeiter:innen sind rund um die Uhr im Einsatz - ein großer Teil von ihnen als Pflegekräfte.
    Auf diesem Blog erzählen einige von ihnen aus ihrem Alltag in einer der bundesweit rund 170 Gesundheitseinrichtungen von Asklepios. Wie sie arbeiten und was sie bewegt, lesen Sie hier.

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