Als gestandene Pflegefachkraft wurde ich von einem Tag auf den anderen aus meiner täglichen Routine herausgerissen und wurde selbst zur Angehörigen eines Intensivpatienten – mein Vater erlitt einen Schlaganfall. Das brachte mich dazu, meinen beruflichen Alltag mit anderen Augen zu sehen. Ich fragte mich, ob ich wohl immer genügend Empathie meinen Patient:innen gegenüber aufbringe. Und ob ich sie und ihre Familien wohl wirklich verstehe und auch in stressigen Situationen ihre Wünsche bestmöglich erfülle. Ein Perspektivwechsel wie dieser kann den Anstoß geben, Alltagsroutinen zu überdenken.
Seit über 30 Jahren bin ich in der Pflege tätig. Dabei habe ich regelmäßig Kontakt mit Patient:innen und Angehörigen – mein beruflicher Alltag erfordert viel Empathie. Doch vor Kurzem führte mich diese persönliche Erfahrung dazu, mich kritisch zu hinterfragen und meinen Blickwinkel zu verändern. Als mein Vater nach dem Schlaganfall bei uns in die Klinik eingeliefert wurde und in der Folge nach 1,5 Wochen an einem Herzinfarkt verstarb, wechselte ich unvermeidlich die Perspektive von derjenigen einer Pflegefachkraft zur Sicht einer Angehörigen.
Empathie in der Pflege: Angst vor Kontrollverlust
In meinem Dienst in der Pflege stelle ich mir seither noch öfter die Frage: Wie oft nehmen wir uns die Zeit dafür, uns in die Lage einer Patientin oder eines Patienten zu versetzen? Wie oft stelle ich mir, BEVOR ich etwas tue die Frage, ob das auf Patient:innen vielleicht übergriffig wirkt? Vielleicht hat der pflegebedürftige Mensch Angst vor Kontrollverlust? – Und mal Hand aufs Herz, wer hatte dieses Gefühl noch nie? Angst vor der Zukunft, um den Arbeitsplatz, um Angehörige zu Hause oder anderes…
Empathie wird zur Brücke bei Sprachbarrieren
Im hektischen Klinikalltag frage ich mich viel zu selten, ob dieser Mensch vor mir überhaupt in der Lage ist, Schmerzen zuzugeben. Ob sie oder er sich traut zu sagen, was sie oder er braucht. Empathie ist umso mehr gefragt, wenn Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede hinzukommen. Stell‘ dir vor, du liegst in einem fremden Land im Krankenhaus, du verstehst nur Bruchstücke, von dem, was über dich gesprochen wird, und niemand nimmt sich die Zeit, herauszufinden, was du wirklich brauchst. Das darf nicht sein. Pflegekräfte können mit einer empathischen Haltung dazu beitragen, dass sich Patient:innen respektiert und verstanden fühlen.
Ohne Empathie wächst die Unsicherheit
Als ich nun selbst Angehörige war, hatte ich den starken Wunsch, für meinen Vater das Beste zu organisieren. Es war schnell klar, dass er mit einem so geschwächten Herzen und einem schlechten Allgemeinzustand nur geringe Überlebenschancen hat. Ich kannte ihn, seine Wünsche und wusste, was er wollte und was nicht. Wir hatten ausführlich darüber gesprochen und alles in einer Patient:inverfügung festgehalten. Dennoch spürte ich die gleichen Unsicherheiten, die ich in meiner Rolle als Pflegekraft bei den Angehörigen meiner Patient:innen erlebt hatte. Diese Zeit war geprägt von ambivalenten Gefühlen und der Frage, ob meine Entscheidungen immer den Wünschen meines Vaters entsprachen. Zudem hat mich die Frage beschäftigt, wie es Angehörigen wohl gehen muss, die Entscheidungen über Leben und Tod treffen sollen, ohne noch mal mit dem Betroffenen darüber sprechen zu können. Das sollten wir Pflegekräfte immer im Hinterkopf haben – egal, wie knapp die Zeit wieder ist.
Trotz Zeitmangel transparent und aufmerksam bleiben
Auch wenn Zeitmangel allgegenwärtig ist, ist Transparenz den Patient:innen und Angehörig:innen gegenüber enorm wichtig. Ein Beispiel: Dem Bettnachbarn im Zimmer meines Vaters wurde innerhalb einer Stunde viermal im Vorbeilaufen gesagt: „Alles gut, der Arzt kommt gleich.“ Der Patient war irgendwann sehr aufgebracht, denn er hatte akute Beschwerden. Mehr Transparenz wäre hier sicher besser gewesen. Zum Beispiel hätte die Schwester sagen können: „Es tut mir leid, der Arzt ist gerade verhindert, weil…. Er kommt gleich als Nächstes zu Ihnen.“
Ehrliche Informationen geben Patient:innen Sicherheit, sie fühlen sich ernstgenommen. Das eigentliche Problem ist zwar dann noch nicht gelöst, aber mit einer Perspektive für dessen Lösung besser auszuhalten.
Das Schöne an unserem Beruf ist doch, die Bedürfnisse unserer Patient:innen zu verteidigen. Trotz Zeitdruck dürfen wir nicht vergessen, wie sehr sich ein:e Patient:in fühlen kann. Da kann ein Moment der Aufmerksamkeit viel bewirken.
Ein Angehöriger oder eine Angehörige kann ermutigt oder auch ein wenig getröstet nach Hause gehen, wenn du nur einen kleinen Augenblick stehen bleibst, du zuhörst oder auch nur für eine Sitzgelegenheit sorgst. Einen Moment der Aufmerksamkeit schenken. Das gehört doch zu den Dingen, warum wir diesen Beruf einmal gewählt haben, und warum ich ihn immer noch gerne mache.
Eine Challenge für alle Pflegekräfte
Im hektischen Klinikalltag finde ich es enorm wichtig, einmal innezuhalten, den Blickwinkel zu ändern und Empathie in den Fokus zu rücken. Nur so können wir sicherstellen, dass wir die Bedürfnisse unserer Patient:innen und ihrer Familien bestmöglich verstehen und erfüllen.
Deshalb fordere ich dich für deinen nächsten Arbeitstag heraus: „Wechsle doch mal die Perspektive, betrachte die Situation aus der Sicht der Patientin oder des Patienten!“
Foto: Nani Chavez von unsplash