„Wenn ich groß bin, werde ich Chef – Mama, was ist ein Chef?“ Dies waren meine Worte, als ich sechs Jahre alt war. Als Mitarbeiter auf meiner ersten Intensivstation fragte ich mich dies dann erneut mehrfach. Was macht eigentlich die Stationsleitung einer Intensivstation den ganzen Tag?
Da die Stationsleitung im Intensivbereich aus organisatorischen Gründen zum Großteil „freigestellt“ sein muss, fragte ich mich tatsächlich, was die den ganzen Tag macht. Wäre es nicht sinnvoller, wenn auch die Leitung bei der Patientenversorgung helfen würde? Es ist ja nicht so, dass einer Pflegekraft in meinem Arbeitsbereich langweilig wird! Arbeit ist immer mehr als genug vorhanden.
Diese Sichtweise ist nicht untypisch. Als ich später stellvertretende Stationsleitung wurde, erhielt ich ein Coaching mit den anderen Stellvertretungen meines Hauses. Wir erstellten damals eine Liste, was wir von einer Stationsleitung, einer Führungskraft, alles erwarten würden.
Diese Erfahrung war eher amüsant. Am Ende stand auf etwa drei DIN A2 Seiten eine Beschreibung von „Supermann/frau“. Der Mensch, der diese Anforderungen erfüllen kann, müsste noch geboren werden.
Was der Chef alles können soll
Wir erwarten viel von unseren Vorgesetzten. Sie sollen ihren Job machen! Eine Station entwickeln, Ziele aufzeigen, Vorbild sein! Alte Zöpfe abschneiden und neue, bessere Konzepte durchsetzen! Schlecht laufende Dinge erkennen und eine tolle Lösung parat haben! Die Gruppe führen, aber bitte auch jeden Mitarbeiter als Menschen sehen, Leistung anerkennen – vielleicht auch unterstützen. Die ganze Krankenhaus-Politik sollen sie bitte auch noch im Interesse der eigenen Station managen. Gute Dienst- und Urlaubspläne schreiben sowieso. Regelmäßige Dienstbesprechungen halten und die Beschlüsse umsetzen bzw. für deren Umsetzung sorgen. Mit den Ärzten verhandeln und bei Konflikten immer auf der Seite der Pflege stehen… Ganz nebenbei sollten sie aber auch voll am Bett arbeiten. Genannte Dinge können ja vielleicht „nebenbei“ passieren. Dies sind nur ganz wenige der Punkte, die wir damals zusammentrugen.
Ich nahm diesen Anforderungskatalog damals mit, als ich nach meinem Leitungskurs schließlich die Möglichkeit bekam, Stationsleitung zu werden. Was machte ich aber nun den ganzen Tag?
Der eigene Anspruch war tatsächlich der oben genannte. Personalplanung, Team- und Mitarbeiterentwicklung. Die Qualität der Arbeit prüfen und verbessern. Hürden erkennen und beseitigen. Jeden Mitarbeiter sehen und seine Leistung erkennen. Bei Bedarf natürlich auch das Gespräch suchen und unterstützen. Nebenbei wollte ich auch eine enge und gute Zusammenarbeit mit meiner Stellvertretung und den anderen Intensivstationen erreichen.
Wie der Alltag der Stationsleitung aussieht
Die Realität sorgt allerdings dafür, dass viele der genannten Punkte nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen zusteht. Der größte Anteil meiner Arbeitszeit wird tatsächlich von akuter Personalplanung eingenommen. Krankheitsausfälle sind hier der größte Faktor.
Sicherstellen, dass die Schichtbesetzung ausreichend ist. Hierbei natürlich auf die Stundenkonten und die Ausgleichszeiten der Mitarbeiter achten. Mitarbeiter fragen, ob sie von der einen in eine andere Schicht wechseln können? Fragen, ob sie womöglich einen zusätzlichen Dienst leisten können und / oder an einem anderen Tag frei nehmen können? Fort-, Weiterbildung und Urlaube beachten.
Nebenbei nehmen die vielen Kleinigkeiten großen Raum ein. Dringende Besprechungen wegen anstehender Veränderungen, wegen hygienischer Anforderungen, Begehungen der Station verschiedener Art. Das Abarbeiten alter und neuer Begehungsprotokolle und die Behebung von Beanstandungen gehören zum Alltag. Dazu kommen Vertreter, welche etwas vorstellen wollen, Bewerbungsgespräche und Hospitationen.
Unterbrochen wird dies durch Wünsche und Absprachen, die Mitarbeiter an mich herantragen. Wichtige Termine, Änderungswünsche am Dienstplan, Diensttausch-Anfragen. Auch Konflikte im Team sind immer mal wieder ein Thema. Besprechungen mit dem ärztlichen Dienst. Dann muss ein bestehender Standard überarbeitet, geprüft oder freigegeben werden. Nebenbei muss der nächste Dienstplan geschrieben werden. Für über dreißig Mitarbeiter ist dies auch Monat für Monat eine Herausforderung. Hierbei muss ich als Leitung auch immer Sorge tragen, dass alle meine Mitarbeiter ihre Pflichtfortbildungen besucht haben bzw. sie hieran erinnern. Keinen Kollegen übersehen. Dazu gehört auch, an „besondere“ Dinge wie Geburtstage, Hochzeiten und bestandene Prüfungen zu denken.
Auch die Überprüfung der Dokumentation und der korrekten Arbeit gehören zum Standardauftrag einer Führungskraft im Intensivbereich. Neben diesen und tausend anderen Dinge beginnt nun aber der eigentliche Teil – die Personalführung und Entwicklung. Für jeden Mitarbeiter soll pro Jahr ein Gespräch ermöglicht werden. Bei etwa fünfunddreißig Mitarbeitern bedeutet dies rund 3-4 Gespräche pro Monat, wenn man die eigene Urlaubszeit abzieht. Jedes Gespräch muss gründlich vor- und nachbereitet werden. Nur wenn ich das Verhalten und die Leistung meiner Mitarbeiter kenne, kann ich mit Ihnen auch darüber sprechen und mit ihnen verbindliche Absprachen treffen. Dass im Anschluss ein gutes, transparentes Gesprächsprotokoll erstellt werden muss, ist selbstverständlich. Die Fragen, was ein Mitarbeiter erreichen kann und möchte, sind darin von zentraler Bedeutung.
Wenn alles gleichzeitig passiert
Es ist sehr schwer, den Alltag einer Leitung in Worte zu fassen – aber er ist immer sehr voll und verlangt häufig, blitzschnell von einem Thema zu einem anderen zu wechseln. Eben sitzt man noch in einer Besprechung über die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pflegekräften, dann beschäftigt man sich mit einem Ausfall für die Nachtschicht. Kaum sitzt man am Dienstplan, erhält man die Information, dass ein notwendiger Arbeitsartikel nicht geliefert wurde und man muss sich um Ersatz bemühen. Schon klingelt das Telefon, ob man einen Termin vergessen hätte? Es würden schon alle warten…
Mein eigener Anspruch ist es, dabei jederzeit freundlich, höflich und respektvoll zu reagieren und immer ansprechbar zu sein.
Ich für meinen Teil bin unglaublich dankbar, dass ich eine fantastische Stellvertretung habe. Gemeinsam teilen wir uns viele Aufgaben und jeder von uns hat seine Schwerpunkte. Das erleichtert vieles und sorgt für Entlastung, denn gute Pflege braucht gute Führung. Auch viele meiner Mitarbeiter übernehmen Verantwortung und beteiligen sich an den alltäglichen Herausforderungen.
Führen oder pflegen?
Wo es die Zeit erlaubt, versuche ich aber auch immer Dienste am Patienten zu leisten. Der Grund ist einfach: Ich liebe meinen Job. Auch wenn ich mich bewusst für eine Stelle als Stationsleitung entschieden habe und diese mich viel zu häufig vom Patientenbett trennt. Für mich stellt es einen tollen Ausgleich da, den Leitungsstress beiseite zu legen und mich um meine Patienten zu kümmern.
Natürlich ist dies nur bedingt möglich. Ich habe in den letzten Jahren eines gelernt: Man kann führen oder pflegen. Tut man beides, kommt eines von beidem zu kurz.
Foto: Marc Alexander Noll