Als Pflegerin auf offener Station für psychisch kranke Jugendliche kann ich euch direkt sagen: Kein Tag gleicht hier dem anderen – was es für mich so spannend macht. Ich arbeite mit Patient:innen im Alter von 14 bis 18 Jahren, die für etwa drei Monate bei uns in stationärer Behandlung sind. Heute nehme ich euch mit auf meine Frühschicht.
Mein Frühdienst beginnt um 6:12 Uhr auf Station 121b, der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Meist sind wir in der Frühschicht zwei bis drei Kolleg:innen, die den Nachtdienst ablösen. Bei frisch gekochtem Tee oder Kaffee kommen wir zusammen und reden über alle Patient:innen auf der Station. Die Übergabe ist wichtig, weil hier der Frühdienst Informationen über Vorfälle in der Nacht bekommt, über mögliche neue Patient:innen und Risiken aufgeklärt wird und erfährt, welche Aufgaben in der Frühschicht anfallen.
Die Aufstehzeit – die erste Herausforderung des Tages
Um 6:30 Uhr ist Aufstehzeit für die zehn bis elf Patient:innen. Vielen fällt es schwer, eigenständig aufzustehen, weil sie unter Depressionen leiden und Hilfe beim Wachwerden brauchen. Wir unterstützen sie individuell, bringen etwa einen Tee oder Kaffee ans Bett oder motivieren mit Worten.
Anschließend versammeln wir uns alle am Frühstückstisch. Wir sitzen bei den Mahlzeiten zusammen. Die Zeit nutzen wir nicht nur zum Essen und Erzählen, sondern auch für unsere Beobachtungen als Pflegeteam, um einschätzen zu können, wie es den Patient:innen geht und in welcher Stimmung sie sind. Nach dem Frühstück bekommen einige Patient:innen Medikamente. Anschließend machen sich die Jugendlichen fertig für die Klinikschule, die sich in einem anderen Gebäude auf dem Klinikgelände befindet.
Schule als Therapie und Übungsfeld
Zwei spezialisierte Lehrer:innen unterrichten die Patient:innen. Meist arbeiten sie am aktuellen Stoff, den sie von ihren Heimatschulen mitbekommen. Da wir immer häufiger Schulabsentist:innen, also Patient:innen die unregelmäßig bis gar nicht mehr zur Schule gehen, bei uns in Behandlung haben, spielt die Klinikschule als Übungsfeld eine wichtige Rolle.
Während der Schulzeit finden verschiedene Therapiestunden für die Patient:innen statt, zum Beispiel Einzel-, Kunst-, Bewegungs-, Musik- und Entspannungstherapie wie auch die Hunde-gestützte Pädagogik.
Da wir eine offene Psychiatriestation sind, haben die meisten unserer Patient:innen freien Ausgang und gehen selbstständig zu ihren Terminen. Manchmal kommt es jedoch vor, dass wir die Patient:innen zu ihren Terminen begleiten.
Bürokratie abnehmen, Alltag organisieren und unterstützen
Wir Pfleger:innen sind bei Therapiestunden und in der Klinikschule nicht anwesend. Während der Schulzeit steht für uns viel Organisatorisches an, wie das Dokumentieren der Patient:innen, Telefonate mit verschiedenen Ämtern oder den Eltern sowie Übergaben für leitende Ärzt:innen vorbereiten.
Kurze Auszeit für die Patient:innen
Zudem leisten wir Pfleger:innen nach schwierigen Therapiestunden emotionale Unterstützung. Wir führen Gespräche und schauen, was die Patientin oder der Patient in diesem Moment benötigt, damit es ihr oder ihm besser geht. Das können Skills sein oder eine Auszeit.
Skills beschreibt jedes Verhalten, das kurzfristig innerhalb einer schwierigen Situation oder Belastung wirksam hilft, Anspannungen abzubauen. Zu Skills gehören etwa Wechselduschen, Musik hören, mit Gummibändern auf die Haut schnippen, an verschiedenen Düften riechen (Eukalyptus bis hin zu Ammoniak), Sudoku spielen, lesen oder Sport treiben.
Zwischen den Schulblöcken kehren die Patient:innen zurück auf Station und legen eine Pause ein, die wir pädagogisch begleiten. Wir bereiten für die Jugendlichen Snacks vor und verbringen Zeit gemeinsam – unterhalten uns, gehen spazieren oder vertreiben uns die Zeit mit Gesellschaftsspielen.
Der Nachmittag – Zeit zum Entspannen
Nach der Klinikschule findet das gemeinsame Mittagessen statt und anschließend die sogenannte Mittagspause für die Patient:innen. Zwischendurch findet auch schon unsere Übergabe mit dem Spätdienst statt.
Die Mittagspause sollen die Patient:innen zum Entspannen nutzen. Dabei fällt immer wieder auf, wie schwer es vielen Jugendlichen fällt, die freie Zeit nur mit sich, ohne soziale Netzwerke zu verbringen. Die meisten sind es gar nicht mehr gewohnt, auf digitalen Medienkonsum in ihrem Alltag zeitweise zu verzichten.
Denn soziale Medien, Fernsehen oder Gaming sind eine beliebte Fluchtmethode von psychisch kranken Jugendlichen, um sich von ihren schweren Gedanken abzulenken oder in ihre imaginäre Welt zu flüchten. Allerdings ist die erlaubte Zeit für digitale Mediennutzung bei uns begrenzt.
Denn wir wollen, dass sich die Jugendlichen während ihres stationären Aufenthaltes voll auf ihre Themen konzentrieren können, ohne sich ständig von beispielsweise ihren Handys ablenken zu lassen. Jedoch dürfen wir nicht vergessen, dass Handys heutzutage wichtig sind, um im Kontakt mit der Familie und Freund:innen zu bleiben. Wir wollen das soziale Umfeld der Patient:innen erhalten und sie nicht von der Außenwelt abkapseln.
Umgang mit digitalen Medien neu lernen
Unsere Patient:innen müssen erst wieder lernen, mit Medien angemessen umzugehen. Dabei können wir sie unterstützen. Die Handynutzung handhaben wir bei jeder und jedem individuell. Das heißt, konsumieren Patient:innen übermäßig stark Medien bis hin zur Sucht, behalten wir sie besser im Blick als andere. Am Vormittag lassen wir die Patient:innen in der Regel nicht an ihre Handys, damit sie unvoreingenommen in den Tag starten können. Am Nachmittag und Abend können die Jugendlichen nach Absprache und in Sichtweite an ihr Handy. Zum Telefonieren haben wir extra Zeiten am Abend.
Die große Visite, Supervision und multiprofessionelle Teams
Jeden Dienstag findet um 13:30 Uhr die große Visite statt, an der das gesamte pädagogische Team aus Früh- und Spätdienst teilnimmt, ebenso wie die Stationsleitung, verschiedene Therapeut:innen, die Oberärztin und die Kliniklehrer:innen. Meine Aufgabe ist es, zu berichten, wie wir die Patient:innen im Stationsalltag erleben und wahrnehmen.
Jeden zweiten Mittwoch findet nach dem Mittagessen für das multiprofessionelle Team eine Supervision statt, die sich in der Regel mit einem ausgesuchten Jugendlichen befasst.
Zudem findet montags im multiprofessionellen Team eine Chefarzt-Visite bei einer Patientin oder einem Patienten statt. Hierbei ist es ebenso wie bei der großen Visite am Dienstag meine Aufgabe, zu berichten, wie wir den Jugendlichen im pädagogischen Stationsalltag wahrnehmen.
Mittwochs findet für alle Patient:innen verkürzt Schule statt, da sie anschließend zu einer sogenannten Sitzvisite gehen. Dabei haben die Jugendlichen die Möglichkeit, individuelle Themen mit der Oberärztin zu besprechen.
In dieser Zeit achten wir Pädagog:innen darauf, dass die Patient:innen in ihren Zimmern nicht einschlafen. Zudem erinnern wir sie daran, sich Gedanken zu machen, was sie ansprechen wollen oder begleiten sie zu anderen Therapie-Terminen im Anschluss. In der Regel begleitet die Stationsleitung die Patient:innen, unterstützt sie und schreibt das Protokoll der Sitzungen. Fällt die Stationsleitung aus, übernimmt jemand aus dem pädagogischen Team die Vertretung.
Die Ferien – die schönste Zeit im Jahr
Während der Ferien findet auch bei uns keine Klinikschule statt. In dieser Zeit überlegt sich das pädagogische Team verschiedene Freizeit-Angebote für die Patient:innen. Daher unterscheidet sich der Frühdienst während der Ferien vom normalen Klinikalltag auf Station. Wir bieten verschiedene Ausflüge an, wie zum Beispiel zum Norddeutschen Rundfunk, zur Polizei oder in den Tierpark. Wir machen Yoga am Morgen, Kooperationsspiele, werden kreativ, kochen und backen, quizzen oder machen Geschicklichkeitstrainings. Da ist alles dabei. Mein persönliches Highlight ist deshalb immer die Ferienzeit – wie früher!
Foto: freepik.com