VON FARSHID AHMADI
Die Pflege von Patienten mit Suchterkrankungen ist nicht einfach. Nicht selten setzen sie sich sogar gegen uns Pflegekräfte zur Wehr, wenn wir sie etwa bei der dringend notwendigen Körperpflege unterstützen wollen. Unsere Hoffnung: Wenn wir vermeiden, dass Patienten verwahrlost und ungepflegt erscheinen, motiviert das die Angehörigen, die Therapie zu unterstützen. Das habe ich im ersten Teil dieses Blogbeitrags über die alkoholabhängige Frau K. beschrieben.
Im Fall von Frau K. wird unsere Hoffnung leider enttäuscht: Als ihre Angehörigen am Nachmittag zu Besuch kommen, wird deutlich, dass die Dimensionen der Sucht längst neue Kreise gezogen haben. Ehemann, Bruder und Tochter haben ebenfalls eine gelbliche Haut, wirken ungepflegt und ein starker Geruch nach Schnaps umgibt sie.
Diese Krankheit betrifft niemals nur eine Person, alle Menschen im engeren Umkreis sind mehr oder weniger auch betroffen. Entweder leiden sie an derselben Sucht oder unter der Sucht des Erkrankten. Sicher ist, dass die Erkrankung sich über mehrere Jahre zunächst unentdeckt und ungefährlich entwickelt und somit die Diagnostik und die genauen Ursachen sehr schwer zu definieren sind. Und da die Ursachen bei jedem Patienten andere sind, sollten im Idealfall die Therapien ebenso individuell angepasst werden. Der hohe Zeitaufwand allerdings macht das nicht immer möglich.
Tod mit 42 Jahren
Frau K. finde ich nach einigen Spätdiensten nicht mehr in ihrem Zwei-Bett-Zimmer, sondern in einem Einzelzimmer. Sie liegt im Sterben. Komatös, nicht mehr ansprechbar und seelenruhig. Sie wurde 42 Jahre alt und hinterlässt eine kleine Familie, die durch den Verlust nun noch gefährdeter ist, psychisch zu erkranken oder in die Alkoholsucht abzurutschen.
Diesen Fall werde ich niemals vergessen, da ich zunächst naiv gehofft hatte, dass die Angehörigen nun geschockt, erschreckt und aufgewacht sind. Dass sie die Folgen der Sucht erkannt, gesehen und gespürt haben. Doch regelmäßig bietet sich mir ein ganz anderes Bild: Ich sehe die Angehörigen von Frau K. auf der Straße wieder – stark alkoholisiert und im Rausch mit Gleichgesinnten.
Das Übel an der Wurzel packen
Für die meisten Patienten mit Suchterkrankungen und deren Folgen bietet die westliche Medizin allein keine Heilung. Sie bekämpft lediglich die akuten Symptome – und wartet stillschweigend darauf, dass die Patienten erneut im Krankenhaus landen. Doch deswegen zu sagen, dass es keine effektive Therapie für Suchterkrankungen gibt, ist falsch.
Schlechte Arbeitsbedingungen, die mit viel negativem Stress einhergehen, oder eine schlechte Arbeitsatmosphäre – verursacht zum Beispiel durch Mobbing im Team – können eine Sucht schleichend befördern. Durch eine Lebenskrise oder einen Burn-Out kann aus chronischem Konsum Missbrauch werden. Sich selbst und seine Freunde und Kollegen zu beobachten und Veränderungen rechtzeitig mutig ansprechen, kann dies verhindern. Selbsthilfegruppen bieten oftmals eine sehr gute, nachhaltige Therapie.
Es ist nicht meine Intention, alle Raucher zu Nichtrauchern zu machen oder Alkohol zu verbieten. Alkohol und Nikotin sind auch Genussmittel und das schon seit Jahrtausenden. Ein Gesundheits- und Krankenpfleger sollte unkritischen Konsum von Missbrauch unterscheiden können. In der Ausbildung wird darauf gründlich eingegangen. Und auch der richtige Umgang mit Menschen mit einer Suchterkrankung wird sowohl in der Theorie als auch in der Praxis vermittelt. So entwickeln sich Gesundheits- und Krankenpfleger zu Fachkräften für Suchterkrankungen. Sie können im Krankenhaus, aber auch in Entzugskliniken, in Selbsthilfegruppen oder bei Projekten zur Aufklärung arbeiten. Für Kinder und Jugendliche gibt es zum Beispiel das Projekt „Kenn Dein Limit!“ . Ein Gesundheits- und Krankenpfleger hat gelernt, auf gefährdete Personen zuzugehen.
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