Warum kommt es in der Psychiatrie oft zu Konflikten? Was passiert, wenn Krisen eskalieren? Und wie lassen sie sich verhindern? Oder im Akutfall deeskalieren? In diesem Beitrag stelle ich euch das Konzept SafeWards Plus vor, mit dem wir in der Asklepios Psychiatrie Niedersachsen erfolgreich arbeiten.
Inhalt:
Was bedeutet SafeWards?
Warum entstehen Konflikte in der Psychiatrie?
Wenn Architektur Konflikte begünstigt
Zigaretten bieten häufig Konfliktpotenzial
Wenn der Konflikt eskaliert
Haltung macht den Unterschied
Zeigt das Konzept Wirkung?
Fazit: Sicherheit braucht Haltung
Als wir am Asklepios Fachklinikum Göttingen erkannt haben, dass wir uns in der Gewaltprävention und Sicherheit noch verbessern können, haben wir ein Projekt gestartet und nach Konzepten gesucht. Gleichzeitig war unser Pflegedirektor Jörn Heinecke auf verschiedenen Kongressen und ist dabei auf SafeWards gestoßen.
Was bedeutet SafeWards?
SafeWards leitet sich vom englischen Wort „ward“ (Station) ab. Übersetzt heißt der Begriff so viel wie „sichere Station“. Das Konzept wurde ursprünglich vom britischen Forscher Len Bowers entwickelt. Er hat viele Jahre lang zu Suizid- und Gewaltprävention geforscht und ein Erklärungsmodell dafür entwickelt, warum es auf psychiatrischen Stationen oft zu Konflikten kommt und wie diese verhindert werden können.
Das „Plus“ steht für all das, was über das ursprüngliche Konzept hinausgeht. So trainieren wir beispielsweise unsere Mitarbeitenden mit Methoden des „Professionellen Deeskalationsmanagement“ (ProDeMa).
Im Zentrum steht für uns dabei immer die Frage: Was brauchen Menschen in akuten psychischen Krisen, um sich sicher zu fühlen? Und was können wir als Pflegende tun, damit Situationen gar nicht erst eskalieren?
Warum entstehen Konflikte in der Psychiatrie?
Psychiatrische Stationen sind komplexe soziale Räume. Hier treffen Menschen in akuten psychischen Notlagen aufeinander. Ihre Wahrnehmung kann verändert sein und ihre Fähigkeit zur Konfliktlösung ist häufig eingeschränkt. Wenn sich dann mehrere Menschen mit ähnlichen Herausforderungen gemeinsam auf einer Station befinden, kann das zu Spannungen führen.
Hinzu kommen neue Routinen, viele Gesichter und fremde Regeln, die verunsichern und ebenso Spannungen erzeugen können. Darum setzen wir auf präventive und deeskalierende Konzepte. Diese lassen sich auch auf andere Pflegebereiche übertragen – überall dort, wo vulnerable Menschen betreut werden.
Wenn Architektur Konflikte begünstigt
Auch die Räumlichkeiten spielen eine zentrale Rolle für das Sicherheitsgefühl unserer Patient:innen. Früher befand sich eine unserer Stationen in einem langen Flur, in dem Aufenthaltsraum, Teeküche und Speisesaal eng beieinander lagen. Da waren Konflikte vorprogrammiert, weil sich die Patient:innen kaum aus dem Weg gehen konnten.
Doch nach dem Umzug in ein Gebäude mit offener, verzweigter Architektur und geschützten Außenbereichen entspannte sich die Situation merklich. Der neue Aufbau bietet Rückzugsmöglichkeiten und verteilt Begegnungsräume. Die soziale Dynamik auf der Station hat sich dadurch spürbar verbessert.
Zigaretten bieten häufig Konfliktpotenzial
Einer der häufigsten Auslöser für Spannungen auf geschlossenen Stationen ist ein scheinbar banales Thema: Zigaretten. Viele Patient:innen rauchen, insbesondere in akuten Phasen ihrer Erkrankung, um Stress zu reduzieren. Doch nicht alle haben ausreichend Vorrat dabei oder die finanziellen Mittel, um sich zu versorgen.
Daher kommt es häufig vor, dass sich Patient:innen gegenseitig Zigaretten leihen. Später heißt es dann: „Ich habe dir welche gegeben – jetzt will ich sie zurückhaben!“ Wenn das nicht möglich ist, eskaliert die Situation. Deshalb beobachten wir das und bieten beispielsweise an, die stationseigenen Vorräte zu nutzen, um Konflikt gar nicht erst entstehen zu lassen.
Denn Konflikte laufen meist so ab: Es beginnt mit Vorwürfen, geht über lautstarke Diskussionen bis hin zu Schlägen, mitunter auch mit improvisierten Werkzeugen wie einem Stuhlbein.
Wenn der Konflikt eskaliert
In solchen Momenten reichen Gespräche nicht aus. Dann greifen unsere strukturierten Abläufe. Wie in den meisten geschlossenen Psychiatrien haben auch wir eine Notrufanlage, die per Knopfdruck ausgelöst werden kann. Binnen ein bis zwei Minuten kommen zehn, manchmal bis zu zwanzig Mitarbeitende zu Hilfe. Das sind fest definierte und geschulte Fachkräfte.
Ziel ist immer: Deeskalieren und nicht dominieren. Die Sicherheit für alle Beteiligten steht im Vordergrund. Wir handeln menschlich, nicht mechanisch. Eine gute Beziehung zur betroffenen Person ist unser bester Schutz und oft der Schlüssel für ein beruhigendes Gespräch.
In solchen krisenhaften Momenten greifen wir ein. Aber nicht autoritär, wie in schlecht recherchierten Filmen, sondern reflektiert.
So sieht unser Handlungsrahmen aus:
- Ruhig bleiben. Nur wer selbst Ruhe ausstrahlt, kann auch das Gegenüber beruhigen.
- Eine Eins-zu-eins-Situation schaffen. Wir trennen die beteiligten Personen, bitten andere Patient:innen freundlich den Raum zu verlassen und stellen keine Forderungen an die betroffene Person.
- Nicht konfrontieren. Wir zeigen echtes Interesse: Was beschäftigt dich? Was brauchst du gerade?
- Reflexion anstoßen. Durch das Nachdenken über gezielte Fragen kommen Patient:innen oft selbst aus der Eskalation heraus.
Diesen Ablauf üben wir regelmäßig in unseren Deeskalationsschulungen. Dabei simulieren wir in Rollenspielen realitätsnahe Szenarien. Auch emotionale Situationen gehören zum Training. Wir lernen zum Beispiel:
- wie wir angespannte Menschen wahrnehmen und ansprechen,
- wie wir durch Gesprächsführung Stress reduzieren können,
- welche körperlichen Schutztechniken im Notfall angewendet werden können und wann nicht,
- ebenso wie wir im Team Verantwortung teilen, ohne die Situation zu verschärfen.
Ein zentrales Prinzip lautet: Wir kontrollieren nicht den Menschen, sondern die Lage. Das Ziel besteht darin, dass alle Beteiligten selbstbewusst, sicher und vorbereitet in schwierige Situationen gehen.
Haltung macht den Unterschied
Sicherheit entsteht jedoch nicht allein durch Technik, bauliche Maßnahmen oder Notrufsysteme, auch wenn diese wichtige Bausteine sind. Vor allem entsteht Sicherheit durch Beziehung, Vertrauen und Haltung.
Konflikte sehen wir nicht als Störung, sondern als Ausdruck eines Bedürfnisses. Das verändert die Art, wie wir reagieren – und vor allem, wie wir vorbeugen. Es geht hier um einen praxisorientierten Werkzeugkoffer für Berufsgruppen wie Pflegekräfte, Ärzt:innen und Psycholog:innen, die mit herausfordernden Situationen umgehen müssen.
Zeigt das Konzept Wirkung?
Wir beobachten: Obwohl die Sensibilität für kleinere Vorfälle gestiegen ist, bleibt die Anzahl der dokumentierten Aggressionsereignisse konstant. Früher wurden vermutlich nur körperliche Übergriffe gemeldet, heute auch heftige verbale Konflikte. Dies spricht für eine verbesserte Aufmerksamkeit und eine gestärkte Kultur der Verantwortung.
Noch wichtiger ist, dass wir eine Veränderung in der Haltung der Mitarbeitenden spüren. Wir erleben Gespräche auf Augenhöhe und viel Interesse an der Lebensrealität unserer Patient:innen. All das macht unsere Stationen friedlicher und menschlicher.
Fazit: Sicherheit braucht Haltung
In der psychiatrischen Pflege geht es nicht um Kontrolle, sondern um Beziehung. Nicht um Autorität, sondern um Achtsamkeit.
Mit SafeWards Plus und dem ProDeMa-Ansatz schaffen wir einen geschützten Raum für Patient:innen, Angehörige und unser Team. Einen Raum, in dem Konflikte ernst genommen – aber nicht gefürchtet – werden. In der Sicherheit nicht von oben verordnet wird, sondern aus Haltung wächst. Denn eines ist klar: Die Psychiatrie braucht Sicherheit. Aber sie braucht sie menschlich.
Wenn dich das Thema interessiert, hör doch mal in die Folge „Sichere Psychiatrie“ unseres Podcasts „Was heißt hier gestört?“ hinein. Hier findest du auch noch weitere spannende Gespräche rund um die Psychiatrie.
Foto: Erstellt mit ChatGPT im Auftrag von Asklepios