Ich war viele Jahre in der Psychiatrie tätig. Schon direkt nach der Ausbildung habe ich begonnen, auf einer Station für Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen zu arbeiten. Später habe ich eine Station für junge Erwachsene mit Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen geleitet. Aus dieser Zeit erinnere ich mich noch sehr gut an einen Anruf von einem Kollegen, der sich bei mir bewerben wollte und das Telefonat mit dem Satz begann: „So, ich dachte ich versuche mich jetzt nochmal in der Königsdisziplin Persönlichkeitsstörungen.“ Mein erster Gedanke: Wie meint er das denn? Mein zweiter: Könnte da was dran sein? Bevor ich die Antwort liefere, ist aber ein kleiner Exkurs in den Aufbau der Psychiatrie hilfreich.
So sind Psychiatrien organisiert
Wie im Bereich der Somatik ist auch die heutige Psychiatrie in verschiede Fachbereiche unterteilt. Zumindest größere psychiatrische Kliniken organisieren sich so. In der Asklepios Klinik Nord gibt es sechs verschiedene Abteilungen, jede nochmal „Klinik für…“ genannt. Dazu gehören die:
• Klinik für Akutpsychiatrie und Psychosen
• Klinik für Forensik
• Klinik für Abhängigkeitserkrankungen
• Klinik für affektive Erkrankungen
• Klinik für Gerontopsychiatrie und die
• Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen.
Eine oberflächliche Einteilung der Patienten
Je nach Aufnahmegrund wird ein Patient der entsprechenden Klinik zugeteilt. Das klingt zunächst nach Schubladendenken und wenig individuell. Denn kann nicht eine Person, die unter Depressionen leidet und eigentlich in der Klinik für affektive Erkrankungen behandelt werden würde, auch ein Suchtproblem haben? Das kommt auf jeden Fall vor. Es wird sich im Falle von mehreren psychischen Problemfeldern nach dem akutesten gerichtet, also dem, was die meisten und größten Probleme macht.
Das Besondere an der Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen
In der Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen kommt es so zu einer bunten Mischung an Menschen. Ein Grund dafür ist, dass sich Probleme im Verhalten, in Beziehungen und mit sich selbst oft als Symptome einer Persönlichkeitsstörung entpuppen. Häufig sind diese Probleme sehr akut und führen nicht selten zu Suizidgedanken und -versuchen – der häufigste Grund für stationäre Aufnahmen in der Psychiatrie. Gleichzeitig entstehen als Teil der Persönlichkeitsstörung weitere Verhaltens- und Erlebensweisen wie Depressionen, Essstörungen oder Abhängigkeitserkrankungen. Einen guten Überblick über häufige Krankheitsbilder in der Psychiatrie gibt es hier auf den Seiten der Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen.
Sind Persönlichkeitsstörungen heilbar?
Es gab Zeiten, in denen Persönlichkeitsstörungen als nicht heilbar galten. Diese Meinung ist zum Glück Geschichte. Aber es bleibt eine komplizierte Erkrankung, unter der die Patienten besonders leiden. Ein therapeutischer Weg in die frühe Kindheit als Entstehungszeitpunkt ist nötig und das tut weh. Damals wurde der Samen der Persönlichkeitsstörung durch emotionalen Stress gesät, die Symptome spitzen sich dann meist erst in der Pubertät zu. Um die für gesunde Menschen kaum vorstellbaren Schmerzen, Ängste, Wut und Überforderung auszuhalten sind über die Jahre unbewusste Verhaltensmuster entstanden, die das Beziehungsverhalten prägen. Davon sind auch die Beziehungen zwischen Patienten und Pflegekräften betroffen.
Spaltung als Belastung für die Patient-Pflege-Beziehung
Eins dieser Verhaltensmuster belastet die zwischenmenschlichen Beziehungen von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen besonders: die Spaltung. Dieses Verhaltensmuster hat seinen Ursprung bereits in frühester Kindheit: ein Kind macht emotional und/oder existentiell bedrohliche Erfahrungen mit Bezugspersonen. Das Kind ist zu dieser Zeit aber abhängig von den Bezugspersonen und muss die bedrohlichen Erfahrungen aushalten. Eine Strategie: Die Wahrnehmung von Negativem wird abgespalten und verdrängt. Die positiven Seiten der schädigenden Bezugspersonen hingegen werden idealisiert. So wird die Welt in schwarz-weiß gespalten. Das sichert das Überleben für das Kind, wird aber zum Hindernis, wenn in späteren Beziehungen bei Konflikten auch wieder schwarz-weiß gedacht, gefühlt und gehandelt wird.
Herausforderndes Verhalten gemeinsam Aushalten
Es kommt in unser aller Leben zu alltäglichen Konflikten – so auch im Klinikalltag zwischen Patienten und Pflegekräften. Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung neigen dann dazu, die Beziehung abzubrechen und lehnen diese eine Pflegekraft auf einmal ab, weil ein Alltagskonflikt die Ängste von früher weckt. Für den Patienten gibt es nur gute oder böse Menschen. An dieser Stelle müssen beide Seiten viel Mut, Kraft und Durchhaltevermögen zeigen. Die Pflegekraft als Profi zunächst doppelt, beispielsweise indem sie immer wieder auf den Patienten zugeht, auch wenn dieser sich gerade eigentlich ablehnend verhalten. Die Patienten müssen das Aushalten von Nähe und Konflikten mit ein und derselben Person so mühsam lernen.
Der Kollege am Telefon wird diese Anforderung gemeint haben, als er die Arbeit mit persönlichkeitsgestörten Menschen als Königsdisziplin bezeichnete. Er hat übrigens den Mut gehabt, die Herausforderung anzunehmen.
Foto: Katharina Voß